Martinusbild: Der geteilte Apfel

Mulugeta Tekles Gemälde „Die Macht von Gott durch den heiligen Sankt Martin“ erzählt die Geschichte seiner Flucht und Rettung. Der Künstler aus Eritrea kam 2015 als Flüchtling nach Rottenburg und lebt mittlerweile in Balingen. Eine Beschreibung von Dr. Heinz Detlef Stäps.

„Die Macht von Gott durch den heiligen Sankt Martin“ von Mulugeta Tekle (Bild anklicken für größere Ansicht)

Der geteilte Apfel

Laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sind seit diesem Jahr fast 110 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Kriege und Gewalt, Armut und Hunger, politische, ethnische und religiöse Verfolgung, Klimawandel, Naturkatastrophen und deren Auswirkungen zwingen weltweit so viele Menschen wie nie zuvor, ihre Heimat zu verlassen. Dabei sind weit mehr als die Hälfte von ihnen im eigenen Land auf der Flucht oder fliehen in die benachbarten Länder. Hauptaufgabe der weltkirchlichen Flüchtlingshilfe der Diözese Rottenburg-Stuttgart ist es, diese Menschen zu unterstützen, damit sie entweder nicht fliehen müssen oder aber in der Region bleiben können, wo sie oft Sprache, Kultur und Religion mit der ansässigen Bevölkerung teilen und sich so besser integrieren können, als wenn sie nach Europa oder in die Vereinigten Staaten von Amerika weiterfliehen müssten. Dabei sind es ganz elementare Dinge, bei denen wir helfen können: stabile Häuser bauen, Saatgut, Lebensmittel, Medizin, Decken, Hygieneartikel kaufen, Brunnen bohren, Schulen bauen, Ausbildung ermöglichen, gerade im Umgang mit dem Klimawandel, und vieles mehr. Oft lehren uns die Geflüchteten, was Hoffnung, Integrationsfähigkeit und Überlebenswille bedeuten kann.

Der Künstler

Mulugeta Tekle ist einer von ihnen. Er wurde 1984 in Eritrea geboren. Ein orthodoxer Christ. Er erlernte dort das Malerhandwerk, arbeitete dort schon als Künstler, gewann sogar Preise für seine Arbeiten. Doch unter einem diktatorischen Regime zu leben ist nicht einfach, schon gar nicht als Künstler. 2015 floh er über Libyen nach Italien. Mit einem Boot. So kam er nach Deutschland, lebt heute in Balingen. Er arbeitet in einem „normalen“ Beruf für den Broterwerb, aber er malt auch in Deutschland. Ständig. „Ohne zu malen kann ich nicht leben, es ist für mich wie atmen,“ sagt er. Und so malt er. Er malt so viel, dass er schon einige Ausstellungen im Schwäbischen damit füllen konnte. Im August gab es eine Ausstellung seiner Gemälde in Rottenburg. So wurden wir auf dieses Bild aufmerksam. Es ist nicht von uns in Auftrag gegeben oder inspiriert, aber es verbindet drei Themen, die uns wichtig sind und die bisher mit Sicherheit noch niemand so zusammengebracht hat: den heiligen Martin, unseren Diözesanpatron, die Hilfe für Geflüchtete und Rottenburg.

Der heilige Martin

Das 2,50 x 1,90 Meter große mit Acrylfarben gemalte Bild hat der Künstler am 19. August 2023 vollendet und nennt es „Die Macht von Gott durch den heiligen St. Martin.“ Es besteht aus vier einzelnen, auf Keilrahmen aufgespannten Leinwänden. Auf diese Weise ist es leichter transportabel, aber es entsteht auch ein Kreuz, das die ganze Arbeit durchzieht und prägt.

Von links kommt Martinus auf einem Schimmel ins Bild geritten. Er bildet keineswegs das Zentrum des Bildes, beherrscht aber die linke obere Leinwand. Das Pferd in ungestümer Bewegung bringt Dynamik und Spannung ins Bild. Es steht für Freiheit. Martinus trägt eine typische römische Soldatenrüstung mit Helm und trägt einen Stab als Rangabzeichen des Centurio (Vitis). Der orange-rote Umhang weht hinter ihm her. Die Gesichtszüge des Martin wirken ein wenig asiatisch.

Wir sind gewohnt, unterhalb des Martin den Bettler zu sehen, mit dem der Heilige seinen Mantel teilt. Hier ist es aber ein dunkelhäutiger Mann, der aufrecht in der äußersten Ecke eines Bootes sitzt und Martin seine offene Hand bittend entgegenstreckt. Rechts von dem Boot sehen wir zwei weitere Boote mit dunkelhäutigen Menschen.

Rottenburg

Die beiden anderen Flüchtlingsboote scheinen vor einem Gebäude anzulanden, das unverkennbar der Dom von Rottenburg ist. Die ganze linke Hälfte des Bildes wird von Blau-Grün-Tönen dominiert, die für Vertrauen und Hoffnung stehen. Es ist als ob das Wasser in hohen Wellen fast über den Dom schwappt. Dieser ist in leuchtendem Orange wie in Flammen dargestellt. Eigentlich scheint das ganze Bild zu brennen. Denn der obere Teil des Bildes wird von Gelb dominiert. Gelb und Orange stehen für den Künstler für die Zukunft. Für eine lichte, hoffnungsvolle Zukunft. Er möchte, dass sein Bild Hoffnung ausstrahlt.

Er kennt Rottenburg gut. Viele seiner Freund leben hier, so sagt er. Er hatte schon zwei Ausstellungen hier. Er findet die Stadt sehr ansprechend und freundlich. Und er wusste, dass sie wie 320 andere Städte und Gemeinden in Deutschland dem Bündnis „Sichere Häfen“ beigetreten ist, wo geflüchtete Menschen willkommen sind und die bereit sind, mehr Menschen aufzunehmen und so ein starkes Gegengewicht zur derzeitigen Abschottungspolitik in Deutschland und Europa zu bilden.

Der Dom in Rottenburg ist eine bescheidene Kathedrale, eigentlich eine Gemeindekirche. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Pläne einen großen, repräsentativen Dom oberhalb von Rottenburg zu bauen von Bischof Carl Josef Leiprecht endgültig aufgegeben. „Mein Dombau ist der Wohnbau“ sagte er mit Blick auf die vielen Wohnungen für die damaligen Geflüchteten, man nannte sie Vertriebene aus den Ostgebieten, die er bauen ließ. Auch damals schon bewegte der Geist des heiligen Martin die Diözese zum Teilen mit Menschen auf der Flucht.

Der Apfel

Von links streckt hinter dem Kopf des Martin ein Baum seine Äste ins Bild. Ihre Kurven wirken wie ein Rahmen für die kräftige gelbe Farbe im oberen Bildteil. Der Baum scheint abgestorben, vertrocknet zu sein. Doch drei Äpfel hängen in Augenhöhe des Martin. Der Künstler verweist auf Mt 12,33: „Entweder: Der Baum ist gut - dann sind auch seine Früchte gut. Oder: Der Baum ist schlecht - dann sind auch seine Früchte schlecht. An der Frucht also erkennt man den Baum.“ Dies ist also ein guter Baum. Die Äpfel symbolisieren für ihn die Heilige Dreieinigkeit: Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Der Apfel hat für den Maler eine zutiefst existentielle Bedeutung: Als sie mit dem Boot an die italienische Küste kamen, von Angst, Durst und Hunger gequält, war das erste, was ihnen die Helfer gaben - ein Apfel. Und so ist es nicht verwunderlich, dass es ein Apfel ist, den Martin dem Geflüchteten entgegenstreckt. Der Apfel steht für Leben. In ihm ist das verdichtet, was die Geflüchteten sich von Europa erhofften - und was sie erhielten. Doch immer steht die Macht Gottes dahinter, wirkt, bewirkt was Gott will. Die ganze Gruppe von Martin mit dem Pferd wird so für Mulugeta Tekle zum Symbol für das helfende Europa. „Martin, das seid ihr!“

Das gesamte Bild wird durch stetig wiederkehrende Formen von gebündelten und leicht geschwungenen Strichen gefüllt, jedes einzelne Bündel wie ein gebogener Mosaikstein. Sie sind dreidimensional wiedergegeben, liegen auf- und untereinander. Auf diese Weise bilden sie ein Gewebe, das die vier Leinwände und alle ihre Motive zusammenbindet.  Sie sorgen aber auch dafür, dass der Malgrund bewegt wirkt, dass Spannung entsteht, dass die Kraft und Dynamik der Martinus-Pferd-Gruppe sich über das gesamte Bild ausbreitet. Dabei liegt dieses Gewebe nicht einfach hinter den Motiven, sondern es fügt sich in deren Konturlinien ein und umspannt sie, den dreidimensional vorgestellten Volumina folgend, was von der lokalen Farbgebung verstärkt wird. Lediglich der Kopf mit Helm und Helmzier des Martin, die Flüchtlingsboote mit ihren Insassen, der Domturm und die Äpfel sind von diesem alles bedeckendem Muster ausgenommen. Es ist, als ob der Maler diese Hauptgewichte seines Bildes auf diese Weise nochmals hervorheben und zusammenbinden möchte: Der heilige Martin (und in ihm wir alle) streckt den Geflüchteten, die in Rottenburg einen sicheren Hafen suchen, das Leben entgegen. Sie sind angekommen.

Mich bewegt, was das für Menschen sind, die auf diese Weise Zuflucht bei uns suchen und die so viele am liebsten gar nicht an Land lassen würden. Sie bringen so viel mit: so viel Not und so viel erfahrenes Leid, aber auch so viel Reichtum, so viel Glauben, so viel Kraft, so viel Können. Wie dieser Maler, der uns alle bereichert mit seinem Talent.

November 2023
Dr. Heinz Detlef Stäps
Hauptabteilung Weltkirche
Diözese Rottenburg-Stuttgart

Weitere Informationen:

  • Das Bild ist im Dezember 2023 zunächst im Dom und derzeit im Bischöflichen Ordinariat in Rottenburg ausgestellt und kann ab Anfang 2024 ausgeliehen werden zur Ausstellung in (Martins-) Kirchen.
  • Die Ausleihe wird über die Martinusgemeinschaft koordiniert: www.martinuswege.de
  • Es sind Postkarten mit dem Bildmotiv über die Expedition der Diözese bestellbar.