Menschen mit Resilienz und Stärke: Besuch bei syrischen Flüchtlingen in Jordanien

„Mein Motto ist: diese Situation hier und jetzt so zu leben, als ob es für immer wäre, und das Beste daraus zu machen. Ich kann nicht resignieren, weil die Augen meiner Kinder auf mich gerichtet sind. Ich bin ihr Vorbild“. Dies hat unser syrischer Gastgebers im jordanischen Om-Ali-Camp, Oberhaupt einer geflüchteten Familie, gesagt. Seine Ausstrahlung, seine schöpferische Kraft und seiner unternehmerische Haltung haben mich stark beeindruckt.

Regelmäßig organisiert Caritas international für Fachkräfte aus Caritasverbänden, Einrichtungen und Diensten Projektreisen, um die Arbeit und die Projekte der Caritas-„Kollegen“ und -Partner in anderen Ländern und Kontinenten kennenzulernen. Vom 16. bis 23. Juni 2019 führte eine solche Reise nach Jordanien. Die Hauptabteilung Weltkirche der Diözese Rottenburg Stuttgart hat seit 2014 elf Flüchtlingsprojekte der Caritas Jordanien unterstützt. Als zuständige Regionalreferentin für Nahost war ich Mitglied einer 18-köpfigen Reisegruppe dorthin.

Der zweite Tag der Reise führt zum Om-Ali-Camp nahe Mafraq im Norden Jordaniens, wo wir eine kleine Siedlung syrischer Flüchtlinge besuchen. 20 miteinander verwandte kinderreiche Familien leben dort. Ich werde diesen Besuch und die Begegnung mit diesen Menschen nie vergessen. In dem kleinen und kahlen Häuschen, das eine der Familien bewohnt, werden wir als Gäste empfangen. Wir sitzen auf Matratzen auf dem Boden, trinken zusammen einen leckeren aromatischen Tee und tauschen uns mit dem Familienvater und einem engen Freund von ihm aus. Die Ehefrau, die Mutter und die vielen Kinder unserer Gastgeberfamilie sitzen in einer Ecke neben mir. Zwei sehr aufgeschlossene und kontaktfreudige kleine Mädchen nehmen während des Gespräches kichernd die Kommunikation mit mir auf, stolz auf die wenigen englischen Wörter und Sätze, die sie in der Schule hier in Jordanien gelernt haben.

Seine Familien und die anderen Familien des Camps sind 2014 aus einem ländlichen Gebiet in der Nähe von Damaskus geflüchtet, so erfahren wir von unserem Gastgeber. Als sie nach Mafraq gekommen sind, hatten sie nichts mehr als die Kleider, die sie am Leib trugen. Sie saßen buchstäblich in Zelten auf dem Sand, „in the middle of no where“, auf einem Grundstück, das sie von einem Arzt aus Amman gepachtet haben. Dank der Caritas und anderer internationaler Organisationen, die sie mit Hilfsgütern, medizinischer Versorgung und einer kleinen Solaranlage unterstützt und die Schulbildung der Kinder ermöglicht haben, konnten sie ihre Situation verbessern. Sehr viel haben sie selbst durch harte Arbeit und eine unglaublich resiliente und unternehmerische Haltung erreicht. Sie haben kleine Häuser aus Backsteinen errichtet, einen kleinen Spielplatz für die Kinder angelegt, Obst- und Olivenbäume gepflanzt – und das in dem an Wasser zweitärmsten Land der Welt und unter äußerst schwierigen Umständen. Sie haben sogar jordanische Nachbarn überzeugt, in eine von ihnen betriebene kleine Zucht von Kühen zu investieren. In Syrien, so erfahren wir, haben sie im Paradies gelebt. Die Gegend war idyllisch an einem Fluss gelegen, hügelig, reich an Wasser, an Obstbäumen und sehr fruchtbar. Die 20 Familien haben auch dort, wie hier im Camp, Tür an Tür gelebt und sich gegenseitig unterstützt. Die meisten von ihnen waren Bauern, einige hatten auch einen kleinen Betrieb oder andere zusätzliche Aktivitäten. Beduinen seien sie, sagt unser Gastgeber. Auf unsere Nachfrage muss er jedoch einräumen, dass sie in Wirklichkeit sesshaft geworden waren und nicht mehr wie ihre Eltern und Großeltern gelebt haben. Er lacht darüber, und wir lachen mit – es ist schön, dass zwischen uns und unseren Gastgebern eine so lockere und entspannte Atmosphäre herrscht. Ich frage mich freilich, ob diese Haltung, das Beste aus einer so schwierigen Situation zu machen, nicht vielleicht doch in ihrer einstigen Lebensweise und Tradition als Beduinen verwurzelt ist. Sicher hat ihnen aber auch geholfen, dass sie als Großfamilie zusammen bleiben konnten.

Die Grenze zu Syrien ist seit Oktober 2018 wieder geöffnet. Wollen sie zurückkehren? „Ja!“ Die Antwort kommt spontan und sehr entschieden. Sie haben sogar eine Einreiseerlaubnis für die Schweiz und die USA abgelehnt. Allerdings schildern Verwandte zuhause die Lage dort als noch instabil und unsicher: Die Häuser sind zu 70 Prozent zerstört, die Infrastruktur ist sehr schlecht, Brennstoff gibt es nicht. Syrien ist nach wie vor ein Land im Krieg und kein Ort, um den Kindern eine Zukunft zu geben.

Trotz der schwierigen Bedingungen, der Armut und der Ausnahmesituation ihres Lebens erleben wir bei diesen Menschen unerwartet ein Stück „Normalität“. Wir reden und lachen viel, es herrscht eine fröhliche und heitere Stimmung. Wir sind zu Gast bei einer syrischen Familie, und all das, was uns anfangs von ihnen getrennt und unterschieden hat, ist plötzlich weg. Sie sind nicht mehr „Flüchtlinge“, obwohl sie auch von ihrer Flucht erzählen, und ich fühle mich nicht mehr als die „Beobachterin“ einer Geldgeberorganisation. Eine beeindruckende und bewegende Begegnung!

Auch andere Begegnungen hat es auf dieser Projektreise gegeben. In den Caritas-Zentren in Amman, Madaba, Irbid und Zarqa, die wir ebenfalls besucht haben, haben wir zahlreiche Gespräche geführt – mit syrischen und irakischen Flüchtlingen, mit afrikanischen und asiatischen Migranten –, und wir haben viel von ihrer großen Not gehört, von ihrer Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. In Jordanien leben schätzungsweise drei Millionen Flüchtlinge, das sind 30 Prozent der Bevölkerung. Etwa 1,3 Millionen sind Geflüchtete aus Syrien. Die Gesichter, Augen, Schicksale, Hoffnungen und Sorgen dieser Menschen begleiten mich seitdem und lassen mich nicht mehr los. „Caritas ist ein Auftrag, kein Job“, sagen die Mitarbeitenden der Caritas Jordanien. Getreu diesem Motto leisten sie in dieser großen Not eine wertvolle und bewundernswerte Arbeit. Gerne sind wir ihre Partner.

Flavia Rizzi