Kardinal Ramazzini: „Wir dürfen die Menschlichkeit nicht verlieren.“

Mehr als hundert Millionen Menschen, so viele wie noch nie, sind derzeit weltweit auf der Flucht. Ebenso weltweit werden Schutzstandards für sie ausgehöhlt, Rechte beschnitten, Mauern gebaut. „Oft werden Hunde besser behandelt als Menschen“, sagt der guatemaltekische Kardinal Álvaro Ramazzini. Er war Gast bei einer Abendveranstaltung „Menschen (ohne) Rechte?“ in Stuttgart-Hohenheim, die von der Diözesan-Akademie und Adveniat gemeinsam getragen wurde.

Ramazzini sieht in der Betrachtung und der Behandlung von Geflüchteten eine „Krise des Humanismus“, geradezu einen „Krieg“ gegen Migranten, und warnt: „Wir dürfen die Menschlichkeit nicht verlieren.“ Er verlangt aber auch, Flucht- und Zielländer gleichermaßen in den Blick zu nehmen. In Lateinamerika, etwa in seiner Heimat Guatemala, sei es „die Armut, die Menschen aus dem Land treibt“; aus Venezuela seien acht Millionen Menschen einfach deshalb geflohen, „weil sie überleben wollen.“ Da hätten die jeweiligen Regierungen „einige Aufgaben zu erledigen“, sagt Ramazzini: „Aber haben die Bürger dort kein Recht, ihr Land zu verlassen? Und nicht wie alle anderen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben?“ Was kann ich dafür, dass diese Menschen arm sind, werde in Europa und den USA häufig gefragt, sagt Ramazzini und merkt dazu an: „Wer so fragt, hat den Sinn für Menschlichkeit verloren.“

Vor allem anderen gehe es darum, dass die Menschen ein Recht auf Leben hätten, so Ramazzini. Und sie hätten ein Recht darauf, ihr Land zu verlassen, wenn es dort keine Überlebenschancen gebe. Migration sei für viele die einzige Chance, der Verfolgung oder der krassen Armut zu entkommen. Migration sei kein „Problem“, sondern biete die Chance, Menschenleben zu retten und ihnen einen Weg in die Zukunft zu eröffnen.

 „Mit großer, großer Sorge“ betrachte der Deutsche Caritasverband die deutsche Debatte um die Geflüchteten, sagt Andrea Schlenker, die bei der Caritas das Referat Migration und Integration leitet. Kriminalisierung Schutzsuchender, Kriminalisierung von Seenotrettern, der Abwehrgedanke als das oberste Ziel von Gesetzesverschärfungen: „Aber worin besteht die Attraktivität Europas? Doch gerade in der Rechtsstaatlichkeit. Tun wir uns also selber etwas Gutes? Wohlfahrtsstaat und Rechtsstaatlichkeit sind innerlich verbunden.“ Die Debatte, so Schlenker weiter, drehe sich um „Scheinlösungen“ und lenke von den eigentlichen Problemen ab. So mangele es für die Integration beispielsweise an Schul- und Kitaplätzen, und was den Personalbedarf auf dem Arbeitsmarkt angehe, „so stehen wir erst am Anfang einer demographischen Krise.“

Schlenker sagt, die Caritas versuche, die Debatte zu versachlichen und zu mäßigen. Sie verlangt „pragmatische Lösungen“ vor Ort – und sieht diese auch, wo andere sie nicht sehen: „Solche Gemeinden treten halt immer leiser auf als die anderen.“ Gegen die von rechten Politikerinnen und Politikern geschürten Ängste müsse man aber auch „positive Erzählungen“ setzen, verlangt Schlenker und zitiert die jüngste Studie, derzufolge sich lediglich sechs Prozent der deutschen Kommunen als vom aktuellen Zustrom derart „überfordert“ sehen, dass sie Geflüchtete in Turnhallen unterbringen müssten: „Aber mit welchen Bildern verbreiten die Medien eine solche Meldung? Doch wieder nur mit Menschen in vollen Turnhallen!“

Andrea Schlenker hebt hervor, Deutschland habe in den letzten beiden Jahren eine Million Ukrainer:innen aufgenommen, „so geräuschlos wie keine anderen Geflüchteten“. Daraus, so schließt sie, könne man doch lernen. „Aber dann haben wir wieder drei Purzelbäume rückwärts gemacht.“

Ruben Neugebauer, Mitgründer der Seenotrettungs-Organisation Seawatch sieht die Gründe für die vergleichsweise unkomplizierte Aufnahme ukrainischer Geflüchteter darin, dass man ihnen von Anfang an alle Bewegungsfreiheit zugestanden hat. „Die konnten bei Verwandten unterkommen. Und während die anderen Geflüchteten zwangsweise in Aufnahmeeinrichtungen bleiben müssen, haben sich die Ukrainer übers ganze Land verteilt, Kommunen waren nicht durch die schiere Menge überlastet. Die Probleme sind also einfach versickert.“ Das hätte man, sagt Neugebauer, „schon 2015 machen können.“

Neugebauer sieht einen deutlichen „Verfall der Rechte“ – nicht nur durch Gesetzesverschärfungen, sondern auch durch „Nichtbeachtung der Menschenrechte“, etwa wenn Geflüchtete an den EU-Außengrenzen zurückgeschickt oder Bootsflüchtlinge wieder aufs Meer geschleppt würden, wie etwa von griechischen Stellen. Grenzen geschlossen zu halten, hält er für „unrealistisch“: „Von der Chinesischen bis zur Berliner Mauer sind über kurz oder lang alle gefallen.“ Und schließlich – ähnlich wie es Andrea Schlenker mit ihrem Drängen auf „positive Erzählungen“ anstrebt – gibt es auch für Neugebauer große Beispiele, wo Migration gelingen könne: „Vor zwanzig Jahren, vor der EU-Osterweiterung, hieß es ja auch, Bulgaren und Rumänen würden uns überschwemmen und zu einem Problem für unsere Sozialsysteme werden. Das hat sich aber nicht bewahrheitet. Und wer hat am Ende meinen kranken Vater gepflegt?“

Klar war für alle drei Podiumsgäste, dass man Zuwanderung nicht nur unter der Frage der „Nützlichkeit“ betrachten dürfe und eine Unterscheidung nötig sei zwischen dem, was der deutsche Arbeitsmarkt brauche – und Menschen, die an Leib und Leben gefährdet seien.

Paul Kreiner

Siehe auch den Kommentar von PD Dr. Andrea Schlenker.

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