Neues Leben

Zur aktuellen Situation im Nordirak

Immer wieder hat man den Eindruck, dass das Christentum im Nahen und Mittleren Osten als ein aussterbendes Phänomen betrachtet wird. Umso mehr im muslimisch dominierten Irak, wo jahrelang der lebensverachtende Terror des IS die Außenwahrnehmung prägte. Auf meiner Reise nach Erbil im Nordirak, die ich vom 12.-15. September gemeinsam mit Bischof Dr. Gebhard Fürst unternehmen konnte, hatte ich einen ganz anderen Eindruck: Das Christentum ist hier höchst vital, es ist sehr lebendig und es ist weit davon entfernt, das Licht auszumachen.

Besonders eindrucksvoll war dies beim großen Pontifikalamt zu spüren, das wir gemeinsam mit Erzbischof Bashar Warda am Vorabend des Festes Kreuzerhöhung in seiner Kathedrale feiern konnten. Eine zum Bersten gefüllte Kirche, Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, von tiefem Glauben getragenes Gebet und Gesang - nein, eine sterbende Religion kann man eher in unseren Gottesdiensten erleben als in diesem lebendigen Gottesdienst, in dem die Gläubigen ganz bewusst die Macht der Ohnmacht des Kreuzes gefeiert haben; wo kann man wohl mehr ein Lied davon singen als hier?

Ankawa ist ein Stadtteil im Norden von Erbil, der ganz überwiegend von Christen bewohnt wird. Eine Statue der Jungfrau Maria steht überlebensgroß auf dem Zentralplatz. Auch wenn die Zahl der Christen in den letzten Jahren natürlich im Gefolge der kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem IS gesunken ist, so prägen sie doch nach wie vor das Gesicht dieses Stadtteils von Erbil. Als ich vor zweieinhalb Jahren das erste Mal hier war, habe ich dies noch viel stärker empfunden, da damals die Front zu den feindlichen Truppen des IS nur 50 km entfernt war.

Heute ist von diesem ungeheuren Bedrohungsszenarium Gott sei Dank nichts mehr übrig geblieben; man hätte es sich damals nicht vorstellen können, dass sich eine so lebensbedrohliche Gefahr auch so schnell wieder auflösen kann. Dementsprechend sind die Herausforderungen für die Kirche vor Ort heute auch ganz andere. Vor zwei Jahren ging es noch in erster Linie darum, den immer noch wachsenden Strom von Binnenflüchtlingen, die aus der Ninive-Ebene um die Stadt Mossul nach Erbil kamen, zu bewältigen und den heimatlosen Menschen Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung und Bildung zu geben - und in all diesen Punkten haben wir die Ortskirche mit unseren Projekten versucht zu unterstützen. Nun aber gibt es keine neuen Flüchtlinge mehr. Die Menschen konnten zum Teil schon zurückkehren in ihre angestammten Dörfer. Wir sahen in Tellisqof ein beeindruckendes Beispiel von Wiederaufbau. Nach dem Versuch des IS, nicht nur die Menschen, sondern auf dem Friedhof auch deren Vergangenheit auszulöschen, können die meisten Familien schon wieder in reparierten Häusern leben, wenn auch nach wie vor viele Ruinen zerstörter Häuser das Bild prägen. Die Kirche wurde auf noch schönere Weise wieder aufgebaut und erstrahlt in neuem Glanz. Dies ist jedoch nur in den christlichen Dörfern möglich. In Mossul selbst ist das Verhältnis zu den muslimischen ehemaligen Nachbarn so nachhaltig beschädigt, dass die Christen sich nicht vorstellen können, jemals wieder dorthin zurück zu kehren. Sie werden auf absehbare Zeit in Erbil, Zakho, Dohuk bleiben, oder wo auch immer sie der Flüchtlingsstrom hingespült hat.

Nun geht es für die Ortskirche darum, diesen Menschen eine gesicherte Basis für ein neues Leben zu ermöglichen. Und so baut die Chaldäisch-katholische Erzdiözese unter ihrem charismatischen Erzbischof Schulen für die Kinder, Krankenhäuser für die Kranken, sie baut Wohnungen für junge Familien, die sich die hohen Mieten in Erbil nicht leisten können, sie baut neue Kirchen und Gemeindezentren und sie baut Altenheime für die zurückgelassenen alten Menschen, deren Kinder schon längst ihr Glück im Ausland gesucht haben. Und mit all diesen Projekten schafft sie neue Arbeitsplätze und versucht, den geflüchteten Familien eine Lebensgrundlage zu schaffen.

Selten habe ich so sehr gespürt, wie wichtig es ist, die Kirche vor Ort bei diesen Projekten tatkräftig zu unterstützen. Wir zeigen damit mehr als geschwisterliche Solidarität. Wir leisten damit mehr als einen Beitrag, dass Menschen nicht zu Flüchtlingen in Europa werden. Wir helfen einer blühenden Kirche, ihren Glauben zu leben und ihn nach außen zu bezeugen und wir unterstützen neues Leben, das im Nordirak aus den Verwundungen und Zerstörungen des Krieges und des Terrors aufblüht.

Ein sterbendes Christentum sähe jedenfalls definitiv ganz anders aus.

17.09.18 / Domkapitular Dr. Heinz Detlef Stäps