Weltweite Migrationsprozesse im Blick: Botschaften an Kirche und Politik

Ein offener Brief der Konferenzteilnehmer der internationalen Konferenz zu menschlichen Migrationsprozessen in der heutigen Welt, die unter dem Thema „Das Leben an den Grenzen neu gestalten: Herausforderungen im Umgang mit Migranten und Flüchtlingen“ vom 4. bis 6. Dezember 2018 in Johannesburg (Südafrika) stattgefunden hat.

Grenze zwischen Südafrika und Mosambik

Zunächst einmal erkennen wir an, dass menschliche Migration so alt ist wie die Geschichte der Menschheit. Dennoch sind in jüngster Zeit Diskurse über menschliche Migration aufgrund der Politisierung von Migrationsprozessen und -ergebnissen in den Vordergrund gerückt. Ein entscheidender Punkt, der allen klar sein sollte, ist, dass die institutionellen Rahmenbedingungen den unterschiedlichen Migrations- und Flüchtlingssituationen nicht gerecht werden. Unilateralismus auf der internationalen Bühne könnte zusätzlich dazu beitragen, dass die Möglichkeiten der derzeitigen internationalen institutionellen Architektur erodieren, den Schutz von Menschen in Migrationsprozessen zu gewährleisten und ihnen auf menschliche Weise zu dienen. Inzwischen haben bewusste Fehldarstellungen, unqualifizierte Kommentare und falsche Behauptungen über Migranten und Flüchtlinge in vielen Ländern unterschiedliche Reaktionen und Gefühle ausgelöst. Daher halten wir es für unerlässlich, einige objektive Fakten über die Migration von Menschen in der heutigen Zeit klarzustellen, Fehlinformationen zu korrigieren und gemeinsam zu einer reflektierten Sichtweise über Migratinnen und Migranten zu kommen.

Wir stellen fest, dass Prozesse menschlicher Migration vielfältig, Migrationserfahrungen unterschiedlich und Migrationsphänomene komplex sind und dass unser Verständnis der Migration von Menschen begrenzt ist. Dennoch gibt es evidente und eindeutige Hinweise darauf, dass die Menschen gemachten und natürlichen Kräfte hinter der Migration miteinander verflochten sind. Der Akteur im Prozess der menschlichen Mobilität ist ein Migrant oder Flüchtling, der durch äußere Umstände gezwungen wird, aus seiner Heimat weg und an einen anderen Ort zu ziehen. Wir sind gemeinsam der Ansicht, dass häufig von wirtschaftlichen Faktoren die Rede ist und dass kulturelle, religiöse, politische Faktoren und durch Naturereignisse bedingte Faktoren weniger im Fokus stehen. Wir machen aber die Beobachtung, dass diese Faktoren in komplexer Weise miteinander verbunden sind. Nicht selten haben staatliche Sicherheitsüberlegungen Vorrang gegenüber humanitären Interventionen. Die meisten Narrative in der aktuellen Diskussion versagen, wenn es darum geht, die subjektiven Gründe der menschlichen Mobilität zum Ausdruck zu bringen. Daher werden herkömmliche Wertvorstellungen und Ausdrucksweisen propagiert – ohne Rücksicht auf ihre Auswirkungen und Folgen. Vor diesem Hintergrund richten wir folgende Botschaft an die unterschiedlichen Interessengruppen:

Wir anerkennen und würdigen die Resilienz und Autonomie, die Mannigfaltigkeit und den Durchhaltegeist von Migranten und Geflüchteten, insbesondere angesichts der um sich greifenden und andauernden weltweiten Not. Wir nehmen wahr und verstehen, dass Menschen in Migration in unschätzbarer und vielfältiger Weise zu menschlichem Fortschritt und zu menschlicher Geschwisterlichkeit beitragen. Entgegen einer allgemeinen Meinung, der zufolge Migranten und Geflüchtete als völlig nutzlos gelten und von karitativer Unterstützung abhängig sind, betonen wir, dass viele sich bemühen, ihren Lebensunterhalt selbst unter ungünstigen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen zu verdienen. Wir wertschätzen die vielfältige Art und Weise, in der die Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten menschliches Leben bereichert, besonders durch Begegnungen, die das Verständnis von Menschlichkeit vertiefen.
 
Wir betonen die wichtige Rolle, die die Zivilgesellschaft bei der Erbringung von materiellen Dienstleistungen und bei der Verteidigung der Rechte von Migranten und Geflüchteten spielt. Wir regen an, dass die Zivilgesellschaft sich stärker auf das Verständnis der Binnenmigration innerhalb des jeweiligen Landes konzentrieren und bewusst die Migrationsprozesse in Grenzgebieten sowie in nichtstädtischen Gebieten herausstellen sollte. Wir ermutigen die Zivilgesellschaft, der Migration von Jugendlichen, Kindern, Frauen, Menschen mit Behinderungen sowie von Lesben, Schwulen, Transgender und Intersexuellen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Wir fordern die Zivilgesellschaft auf, sich für Multilateralismus und die Stärkung der internationalen Architektur für menschliche Mobilität einzusetzen.

Unsere Botschaft an die Kirche ist es, ihre bereits bestehenden Anstrengungen zu verdoppeln, mit denen sie Menschenwürde und Achtung vor den Menschen voranbringt, und den Menschen, die unterwegs sind, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Kirche sollte Partnerschaften stärken und neue Partnerschaften schaffen, durch die Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften für ein besseres Wohlergehen von Migranten und Flüchtlingen aktiviert werden. Angesichts beschränkter Ressourcen sind wir der Meinung, dass die Kirche umdenken und mehr Ressourcen für pastorale Dienste in Grenzgebieten zur Verfügung stellen muss. Grundsätzlich muss sie eine viel differenziertere Ausrichtung auf das Phänomen menschlicher Migration entwickeln. Religiöse Gruppen müssen den Dialog ermöglichen, innovative und prophetische Interventionen kreieren und die Position und das Verständnis der Kirche hinsichtlich der Mobilität von Menschen in den unterschiedlichen und sich ständig verändernden und entwickelnden Kontexten artikulieren.

Unsere Botschaft an die Regierungen ist es, dass ihre Verantwortung darin besteht, Migration nicht für Wahlzwecke und für ihren politischen Nutzen zu instrumentalisieren, sondern vielmehr die Menschenwürde zu fördern – einschließlich der Menschenwürde von Migranten – , und die geltenden Menschenrechtsstatuten umzusetzen. Die Regierungen sollten Programme zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und Menschenhandel unterstützen und fördern. Von wesentlicher Bedeutung sind Maßnahmen, die eine humane Behandlung von solchen Personen sicherstellen und deren kulturellen Rechte respektieren, die sich regelmäßig in Grenzgebieten bewegen. Die Regierungen sollten Aktivitäten verstärken, mit denen sie ein günstiges Umfeld für die Migration über die Ländergrenzen hinweg schaffen; und besonders sollten sie Sicherheit für die Bewegung von Geflüchteten schaffen. Wir fordern die Regierungen auf, ihre derzeitige nationale Migrationspolitik unter Berücksichtigung des sich verändernden globalen Kontextes zu überprüfen und neu zu formulieren. Wir ermutigen die Regierungen auch, die internationale Architektur für menschliche Mobilität im Sinne des Multilateralismus zu stärken. Wir betonen, dass es für die Regierungen wichtiger ist, sich auf den Bau von Brücken zu fokussieren als auf den Bau von Mauern.

Wir hoffen, dass die vielen Interessengruppen, die wir angesprochen haben, unsere Botschaft prüfen und über sie nachdenken werden. Wir sind der Meinung, dass unsere Botschaft deutlich unterstreicht, wie entscheidend Integration als wichtige Option für Migranten und Flüchtlinge ist. Unsere Botschaft ist wichtig, um nachhaltige Lösungen und Existenzmöglichkeiten voranzubringen, Ungleichheiten zu reduzieren und letztendlich eine universelle Geschwisterlichkeit zu fördern. Es ist eine dringende Pflicht für uns alle, eine Welt zu schaffen, in der menschliches Leben nicht absichtlich und unnötig zerbrochen wird. Und wann und wo so etwas geschehen ist, müssen wir helfen, eine solche Welt wieder aufzubauen.

 

Johannesburg, 6. Dezember 2018